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Reisebericht Ukraine 07/2024

Liebe Freundinnen und Freunde der Csilla von Boeselager Stiftung,

In der vergangenen Woche bin ich wieder in die Ukraine gefahren, um die Situation besser zu verstehen, unsere Arbeit dort weiter zu schärfen, unseren Partnern in Odessa Mut zuzusprechen und Ihnen, unseren treuen Spenderinnen und Spendern, aus erster Hand berichten zu können. Unbeschreiblich wunderbare und engagierte Menschen habe ich dort begleitet bei ihrer Arbeit und auf Field Mission.

Mein Fazit: Wir sind am richtigen Ort zur rechten Zeit. Was wir dort durch unsere Partner haben aufbauen können, hat sich zur inzwischen stärksten unter den regionalen Hilfsorganisationen entwickelt: „New Dawn“. Das kann ich auch deshalb behaupten, weil ich beim regionalen Meeting von OCHA (UN Organisation for Coordination of Humanitarian Aid) zugegen war und mit vielen Verantwortlichen gesprochen habe.

Ich bin unfassbar dankbar, dass ich das Team dort erleben und begleiten durfte – und ich kann Ihnen persönlich versprechen, hier ist Ihre Spende gut investiert (das gilt natürlich auch für unsere anderen Projekte in der Ukraine).

Field Mission Kherson

Kherson war bis voriges Jahr von den Russen besetzt. Die Stadt ist inzwischen befreit sowie der nördliche Teil des Bezirks. Hier leben noch 140.000 Menschen, die ihre Häuser und Dörfer nicht verlassen wollen. Die russische Armee liegt gleich auf der anderen Seite des Flusses. Wir sind bis tief in die sogenannte Grey Zone reingefahren, um Hilfsgüter zu bringen. Nur wenige Hilfsorganisationen dürfen in diese Zone, insbesondere nachdem kürzlich zwei Mitarbeiter einer französischen Hilfsorganisation ums Leben kam. Russland hat die Hilfsorganisationen zum Feind erklärt, weil sie die Besatzung mitverhindern. Ich bin mit gut ausgebildeten Leuten unterwegs, es gilt strenges Sicherheitsprotokoll mit schweren Schutzwesten und Helmen, aber zum Verteilen der Hilfsgüter nehmen wir die Helme ab – es kommt einem unmenschlich vor.

In Sofivka sind wir der Frontlinie sehr nah – man kann die andere Seite des Flusses sehen, die weiterhin von Russland besetzt wird. Die Verteilung der Hilfsgüter geht geordnet zu, jede/r einzelne muss unterschreiben. Manche lachen, wirken fröhlich bei der Zusammenkunft, die meisten sind scheu. Sie gehen schnell wieder, denn Menschenansammlungen sind gefährlich. Ein viel zu kleiner mobiler Bunker steht auf dem Dorfplatz. Von der Warnung zum Einschlag dauert es hier nur 12 Sekunden, sagt der Bezirksvorsteher. Er würde am liebsten alle evakuieren, aber es ist ihr Zuhause, und wenigstens haben sie hier etwas Land, können etwas anpflanzen. Letztes Jahr haben wir hier Saatgut verteilt. Projektpate Philipp Francke ist schon oft hier gewesen – ohne ihn gäbe es New Dawn nicht.

Wir dürfen nicht lange bleiben, aber ein paar Gespräche kann ich dennoch führen: Die Menschen leben zwischen Fatalismus und Hoffnung, sie sind dankbar über die wenigen Hilfsgüter. Der Junge mit dem ich rede zittert, er hat im Mai seinen Vater verloren, seine Mutter weint – sie hat vier Kinder und im Juli wollten sie endlich heiraten. Babuschka Ala, wie sie hier alle nennen, scheint hingegen ihren Humor nicht verloren zu haben, sie ist offensichtlich Mittelpunkt für einige Dorfbewohner. Eine Frau berichtet, dass es nachts am schlimmsten sei: Ständig höre man die Schüsse und dumpfen oder lauten Einschläge.

Bevor wir zurückfahren machen wir Halt in Kherson Stadt. Hier holen wir mit dem geleerten Sprinter gebrauchte Feuerlöscher ab, damit sie in Odessa befüllt werden können. Ein Tropfen auf den heißen Stein, aber im Moment werden Brandgranaten geschossen, und die unterbesetzte Feuerwehr hat kaum eine Chance noch zu löschen – daher bat der stellvertretende Bürgermeister um Hilfe für den Selbstschutz. Er kommt selbst und hilft beim Verladen.

Auf der Fahrt raus aus Kherson fahren wir durch die Innenstadt.

Hier wird mir ganz anders. Die Straßen sind leer, Häuser ausgebrannt, Asphalt mit Kratern. Von den 79 Tsd. Menschen (vormals 284 Tsd.) ist kaum jemand zu sehen. Wir fahren an der Akademie vorbei, ein Gebäude das Katharina die Große beauftragt hatte, wo vor drei Tagen Bomben eingeschlagen sind. Kurz steigen wir auf dem bei der Befreiung der Stadt berühmt gewordenen „Platz der Freiheit“ aus für ein Foto, aber eigentlich will man nur weg – und weinen. Ich schreibe das nicht um zu beeindrucken, sondern weil es das ist, wie ich mich in dem Moment fühle.

Leben im Krieg

Wir fahren zurück und streamen im Auto das Viertelfinale Deutschland gegen Spanien – mehr Kontrast geht kaum, aber es hilft. Ohnehin müssen die Menschen ja weiterleben. Man spürt den krassen Kontrast in Odessa: Ich gehe am Samstag mit Philipp spazieren in der Stadt, die Läden haben geöffnet, die Menschen trinken Cappuccino in der Sonne. Ich treffe die Direktorin und den Chefdirigenten der Oper, eines der berühmtesten Opernhäuser Osteuropas. Sie hatten nie geschlossen, jetzt spielen sie sogar ein- bis zweimal am Tag. Ja, sie hätten viele Mitarbeiter an den Krieg verloren, sagt der Dirigent. Die Rekrutierungsmethoden sind brutal geworden, alle haben Angst davor, vom Militär gefunden zu werden. Wer sich nicht freiwillig gemeldet hat, will nicht an die Front – ich kann es verstehen, ein fürchterliches Dilemma. Abends gehen wir mit dem ganzen Team in die Oper, über zwanzig Leute. „Don Pasquale“ von Donizetti, eine Opera Buffa. Die Direktorin sagt, die Menschen brauchen jetzt was Fröhliches. Die Preise sind aus westlicher Sicht spottbillig, aber haben sich bereits seit Kriegsbeginn verdoppelt bis verdreifacht, wie die Lebensmittelpreise auch. Es wird weniger verdient und alles wird teurer.

Immerhin, die öffentliche Ordnung ist erstmal wiederhergestellt: Von Verkehrskontrollen bis Müllabfuhr läuft alles. Strom gibt es halbtags, ansonsten werfen die Restaurants ihre Generatoren an. Die Oper hat ihre Vorstellungen auf 17 Uhr vorverlegt – abends ist noch öfter Bombenalarm als tagsüber, man habe zu häufig abbrechen müssen.

Als ich an diesem Abend ins Bett gehe, lese ich auf dem Telegram-Kanal, der die Bevölkerung live über kriegerische Aktivitäten informiert, dass heute 5 Bomben auf den Oblast Odessa abgefeuert wurden. Eine hatte ich gehört, während ich in einem Café saß: Sie schlug 50km vor Odessa in einer Raketenabwehrstation ein. Auf Telegram feiert man, denn es sei eine Attrappe gewesen, die zerstört wurde – und zeigt einen Propagandafilm der Russen, die den Abschuss zeigen und drauf reingefallen seien. Das alles findet statt irgendwo zwischen Fiktion und Realität, es könnte fast ein mobiles Simulationsspiel sein – aber es ist Wirklichkeit. Und man liegt ohne Strom im Hotelzimmer und zuckt bei jedem dumpfen Geräusch. Wahrscheinlich ist es nicht, dass man selbst getroffen wird, aber man weiß: Jemand wird fast immer getroffen.

OCHA-Meeting

Am Tag vor der Field Mission sind wir beim UN First Response Meeting in Mykolajiw von OCHA (Office for Coordination of Humanitarian Affairs). Man trifft sich in einem Kellerraum aus Sicherheitsgründen, es ist eng. Viele tummeln sich hier: Regionale und internationale NGOs, und natürlich die UN-Organisationen selbst – aber die dürfen gar nicht in die Grey Zone fahren. Für die „Last Mile“ sind die inländischen NGOs gebeten, unsere New Dawn zum Beispiel. Es werden viele Statistiken vorgetragen sowie Befragungen der Bevölkerung. In den ersten 1,5 Jahren hat jede Organisation gemacht was sie wollte. Schnell rein, im erstbesten Dorf Hilfsgüter verteilen, Fotos machen, und schnell wieder raus. Erstens gab es Todesfälle, aber vor allem führte es dazu, dass die einen Dörfer überfüllte Scheunen hatten und die anderen gar nichts. Zudem geht gut gemeinte Hilfe oft am Bedarf vorbei. New Dawn ist schon lange eng verdrahtet mit den Behörden und mit OCHA. Nun aber wird für alle intensiv darauf geachtet, dass die Hilfe geordneter zugeht – soweit das möglich ist.

New Dawn (www.newdawn.org.ua)

Überhaupt bin ich beeindruckt, wie professionell New Dawn inzwischen arbeitet. Es gibt eine unverrückbare No-Corruption-Policy. Das führt zu viel Papierkram. Für buchstäblich jeden Kugelschreiber muss eine Ausschreibung gemacht werden, nichts geht ohne Vertrag mit Stempel und Unterschriften. Jede/r Bedürftige wird registriert, die IDPs (Inlandsflüchtlinge) dürfen nur in bestimmten Abständen kommen, je nach Lagerbestand. Es gibt eine elektronische Warteschlange, damit weniger Gedränge entsteht. Am meisten beeindrucken mich aber die Menschen, die hier arbeiten. Fast alle sind von Beginn an dabei, kamen um zu helfen – und blieben.

Slava zum Beispiel: Er hatte einen extrem gut laufenden Sanitär-Installationsbetrieb in Luhansk, und weil er pro-ukrainisch war, machte man ihm schon seit 2014 das Leben schwer. Aber als die russische Invasion begann, wurde sein Leben bedroht. Fast alles ließ er zurück, packte nur seine Frau und seine beiden Söhne ins Auto mit dem Nötigsten. Da er nicht einfach in den unbesetzten Teil der Ukraine fahren konnte, fuhr er im März 2022 durch Russland rauf nach Estland und kam dann über Polen wieder an die ukrainische Grenze von der anderen Seite. Die Zöllner staunten, denn während alle anderen raus wollten, war er das einzige ukrainische Auto, das wieder rein wollte. Er kam nach Odessa und fing an zu helfen. Heute ist er vor allem ein krisengeschulter Fahrer und bringt mehrmals wöchentlich Hilfsgüter an die Front. Da hat er schon vieles erlebt, auch dass das Fahrzeug hinter ihm eine tödliche Rakete abbekam. Slava wirkt wie der Typ Türsteher und ist dabei ein so herzensguter Mensch – so wie alle, die ich hier erlebe. Inzwischen sind einige festangestellt. Diesen Teil der Finanzen übernimmt im Wesentlichen Johanniter International, wir konzentrieren uns auf Projekte und Hilfsgüter – so gilt auch in der Ukraine: Jeder von Ihnen gespendete Euro kommt auch bei den Bedürftigen an.

Als ich Sonntag frühmorgens den Bus nach Moldawien besteige, sind mit mir nur Frauen und Kinder und ein paar wenige Ausländer an Bord. Gestern war bei Telegram wieder ein Bericht von flüchtigen jungen Männern, die an der Grenze gefasst wurden. Ich habe mit Frauen geredet, die Angst um ihre Männer haben. Das ganze Land ist im Trauma. Ich hoffe und bete, dass Frieden einkehrt in dieses geschundene Land. Bis das passiert und darüber hinaus werden wir weiterarbeiten und helfen zu lindern, was die Invasion den Menschen antut.

Ich bitte Sie, lassen auch Sie nicht nach. Es geht nicht um die Massen, es geht um Einzelne. Ich habe in ihre Gesichter geschaut. Danke, dass Sie uns helfen zu helfen.

Dortmund, den 8. Juli 2024

Dr. Raphael von Hoensbroech
1. Vorsitzender

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